Einführung in die Ausstellung, Dr. Belinda Grace Gardner
 
Magische Materie

Dark Matter – Art Meets Science: Brücken und Begegnungen zwischen Wissenschaft und Kunst

Die Natur ist ein Kunstwerk, das geschaffen worden ist im Verlauf von Generationen von Künstlern, die man heute Wissenschaftler nennt.
Paul Feyerabend (1)
 
There’s no dark side of the moon really. As a matter of fact, it’s all dark.
Pink Floyd, The Dark Side of the Moon, 1973 (2)
 
Beim Blick in den Nachthimmel wölbt sich über uns ein unermesslich weiter Raum. Wir schauen empor zu den Sternen, deren Licht als Nachbild längst erloschener astraler Existenz am Firmament funkelt, lesen darin magische Zeichen, die Orientierung, Inspiration, Ausblick, Erkenntnis versprechen. Schon die frühen Forscher der Antike suchten die Gesetze des Alls zu begreifen. Verorteten sie noch in geozentrisch angelegter Himmelskugel den Sitz der Götter, die sie als treibende Kräfte für die Bewegungen der Planeten und als Lenker der Geschicke der Menschen sahen, stehen heutige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, spezifisch die der Teilchenphysik, vor dem bislang ungelösten Rätsel der Dunklen Materie.

Bekanntlich machen Dunkle Materie und Dunkle Energie rund 95 Prozent des Universums aus. Nur 5 Prozent der uns umgebenden Materie ist fassbar. Wir durchschweben also eine immense Sphäre, deren Beschaffenheit sich – bis auf weiteres – dem Zugriff entzieht. Die antiken Philosophen von Empedokles (ca. 495–435 v. Chr.) über Platon (ca. 428–347 v. Chr.) bis Aristoteles (384–322 v. Chr) und darüber hinaus betrachteten das Universum im Sinne der Vier-Elemente-Lehre. Demnach besteht alles Sein aus Feuer, Wasser, Luft und Erde, die als göttliche Grundelemente Welt und Kosmos durchwirken. Während die antike Kosmologie das kleine vom großen Bild ableitete, zielt die heutige Wissenschaft darauf, aus den energetischen Wechselwirkungen der Elementarteilchen die Geheimnisse des Universums zu erschließen, das Unsichtbare sichtbar zu machen, in Kleinstpartikeln das große Panorama zu erkennen.

Getragen von der Vermutung, dass Dunkle Materie aus noch unbekannten Elementarteilchen besteht, ist deren Aufspürung Gegenstand aufwendiger Forschungsprojekte mit Teilchenbeschleunigern wie dem Large Hadron Collider am Genfer Kernforschungszentrum CERN, wo der Urknall simuliert wird, indem Teilchen in unterirdischen Rohrsystemen mit Höchstgeschwindigkeit zur Kollision gebracht werden: ein feinstofflicher Mega-Aufprall, der im Idealfall die bisher noch verborgene Dunkle Materie erkenn- und messbar werden lässt. Physikerinnen und Physiker des DESY arbeiten bei der Erfassung und Analyse riesiger Datenmengen mit Kolleginnen und Kollegen des CERN am Genfer Experiment zusammen – eine Langzeitstudie, die ohne Unterbrechung über Jahre verläuft. Die internationale Kooperation zwischen Forschungsteams gehört zum wissenschaftlichen Alltag. Ein Experiment anderer Art verspricht der Dialog zwischen WissenschaftlerInnen und KünstlerInnen, der jetzt erstmals am Hamburger DESY-Zentrum unter dem Titel Dark Matter – Art Meets Science mit einer Ausstellung und begleitenden Veranstaltungen (darunter auch ein Programm der Hamburger KurzFilmAgentur: Dark Matters) in Gang gesetzt wird.

Initiiert von der Hamburger Künstlerin Tanja Hehmann und dem Physikprofessor Christian Schwanenberger, leitender Wissenschaftler am DESY, ist Dark Matter – Art Meets Science als Brückenschlag zwischen den scheinbar so gegensätzlichen Disziplinen der bildenden Künste und der (Natur-)Wissenschaften konzipiert: eine Begegnung, an der neben DESY-Forscherinnen und –Forschern 15 Künstlerinnen und Künstlern aus Hamburg und anderen Städten mit weitgehend neu entwickelten Arbeiten partizipieren. Alle beteiligten KünstlerInnen befassen sich schon länger von ästhetischer Warte aus mit Fragen, die die Teilchenforschung ebenfalls interessieren: Kann es ein Phänomen überhaupt geben, wenn es nicht wahrnehmbar ist? Wie lässt sich ein solches Phänomen beschreiben und darstellen? Welchen Platz nehmen wir im Universum ein? Woraus besteht der Kosmos?

Zu den ausgewählten Standorten für die Präsentation der Kunstwerke auf dem DESY-Gelände gehören Außenareale, Test- und Forschungseinrichtungen. Insofern sind die KünstlerInnen mit ihren Beiträgen – darunter Malerei, Film, Fotografie, Computergrafik, (kinetische) Objekte, Soundperformances, Installationen, Maschinen und Architekturen – in den wissenschaftlichen Betrieb direkt eingebunden. Die ForscherInnen wiederum sind aufgefordert, sich mit den künstlerischen Interventionen auseinanderzusetzen, die ihre Arbeit multiperspektivisch reflektieren, brechen, hinterfragen und gelegentlich auf den Kopf stellen. Dass sich die Ansätze der Kunst und der Wissenschaft bisweilen sehr ähnlich sind, kommt dabei ebenfalls zum Vorschein: Das Anliegen, etwas fassbar werden zu lassen, was noch keine feste Form oder Beschaffenheit hat und was jenseits des Erkennbaren liegt, verbindet die beiden Felder.

Beschleuniger des Sehens
Dunkle Materie: Im übertragenen Sinne verweist sie auf das Unbekannte, das, was im Schatten des Bewusstseins liegt und sich dem Blick und dem Zugriff entzieht. Eine immaterielle Projektionsfläche, die Alles sein kann und Nichts, ein Mysterium das sich der Imagination zugleich versperrt und der Fantasie einen grenzenlosen Vorstellungsraum eröffnet. In der Sphäre der Allegorien und der Bilder lässt sich die physikalisch herbeigeführte Teilchenkollision auch als energiegetriebener post-alchemistischer „Stein der Weisen“ auffassen, der statt Gold die noch fehlenden Elementarteilchen hervorzubringen vermag. Die alchemistischen Energien der Verwandlung, die Phänomene der Wirklichkeit in andere Zustände zu überführen und dem Nichtwahrnehmbaren Gestalt zu geben vermag, sind der Kunst grundsätzlich eigen: Sie selbst fungiert als Beschleuniger eines erweiterten Sehens, das andere Denk- und Bildwelten erschließt und in Aussicht stellt.

Eine Transformation des Immateriellen ins nahezu Hypermaterielle und wieder zurück führt Baldur Burwitz (*1971) in seiner künstlerischen Aktion vor Augen. Er hat den Zusammenprall der Teilchen im physikalischen Experiment in einen realen Crash zweier Autos übersetzt, die im Kreisverkehr unweit des DESY-Haupteingangs mit voller Wucht aufeinander gekracht sind. Der von multiplen Blickwinkeln aufgenommene, inszenierte „Unfall“ ist in einem Kurzfilm festgehalten: Scheitern und Gelingen werden in dieser Gleichung mit mehr als einer Unbekannten miteinander verschränkt – der Unfall, bei dem die „Materie“ der Autos zerstört wird, führt letztlich zum Gelingen des Kunstwerks.

Ausgehend von Verfahren der Teilchenphysik lanciert Marcel Große(*1981) ein künstlerisches Forschungsprojekt als „Beschleuniger“ System der anderen Art, eine ergebnisoffene multivalente Versuchsanordnung, die das Unerwartete miteinbezieht: Die Abweichung vom festgelegten Weg ermöglicht überhaupt erst die Entdeckung, so die These des Künstlers: auch dies eine Analogie zur wissenschaftlichen Forschung, die nicht selten über Umwege – per aspera ad astra- zur gesuchten Erkenntnis kommt.

An der Wendeltreppe im Eingangsfoyer von Laborgebäude 1 des Forschungszentrums, wo auch das Modell der DESY-Anlage steht, hat Swen Erik Scheuerling (1980) seine rotierende, skulpturale Video-Installation als bewegtes Vexierbild platziert, das zwischen Zwei- und Dreidimensionalität, Wirklichkeit und Illusion kippt und die räumlichen Gegebenheiten miteinbezieht – ein Spiel mit der Wahrnehmung und eine Hommage an die Rotoreliefs des Readymade-Erfinders, Marcel Duchamp.
Visuelle/physische/mentale Verunsicherungen, die Störung und Hinterfragung von Gewissheiten, sind Leitthemen mehrerer künstlerischer Beiträge der Ausstellung, ebenso die Frage nach der Abbildbarkeit und Sichtbarmachung des Unsichtbaren und Nichtabbildbaren.

Letzteres reflektieren auch die im DESY-Hörsaal und anderen Orten des Forschungszentrums installierten irisierenden Bilder der Malerin Julia Münstermann (*1977) aus der Serie Electric Shadow, die auf die heute omnipräsenten Monitore als (durchaus trügerische) „Fenster zur Welt“ Bezug nehmen und zwischen analoger Darstellungsmethode und digitaler Anmutung oszillieren. Im Bildraum offenbaren sich Bildstörungen: Sie schärfen den Blick für die Problematik des Begreifens und Lesens der Bilder im medialen Dauerrauschen unserer Zeit.

Aus dem Ineinanderfließen von analog und digital erwachsen auf andere Weise auch die filigranen, schwarz-weißen, oft auf Motiven aus dem Internet oder Fotos der europäischen Weltraumbehörde ESA beruhenden Printer-und Plotter-Zeichnungen von Wolfgang Zach(*1949). Sie entstehen durch einen Prozess digital gesteuerter Übertragung, bei dem die Bildvorlagen durch Programme, die der Künstler selbst entwickelt, analysiert und mittels teils ebenfalls selbst konstruierten Maschinen in Bleistiftzeichnungen umgewandelt werden. Im DESY-Auditorium zeigt er eine galaktische Deckeninstallation mit Prints auf semi-transparentem Fahnenstoff nebst Arbeiten auf Papier, darunter eine Repräsentation des Crab Pulsar, der als „kosmischer Beschleuniger“ gilt.

Suche nach dem Unbekannten
Jana Schumacher (*1983) präsentiert bezugnehmend auf den Erfinder, Architekten, Designer und Philosophen Buckminster Fuller in der ATMF Beschleunigermodul-Testhalle eine geodätische Kuppel als Trägerfläche für abstrakte Zeichnungen. Im Innenraum ihrer von außen scheinbar undurchlässigen Kuppel entfalten die Zeichnungen, durch deren feine Risse und Perforationen von außen Licht eindringt, die Wirkung eines Sternenhimmels: Die Künstlerin versteht ihre Arbeit als „Metapher einer Suche nach dem Unbekannten“, die „Künstler und Wissenschaftler zu Verbündeten“ mache.

Hier sind auch die vielschichtigen, durch Fräsungen und Gusstechniken gestalteten Bildobjekte von Daniel Engelbert (*1979) zu sehen, die assoziative optische Verbindungen zu wissenschaftlichen Untersuchungen der Dunklen Materie herstellen: Netzstrukturen, Teilchenkonglomerate und Farbabstufungen, die Energieprozesse oder auch kosmische Dimensionen in nuce evozieren.

Der Sitz des über 6 Kilometer langen HERA-Tunnels, ein nicht mehr in Betrieb befindlicher Teilchenbeschleuniger, der mittlerweile besichtigt werden kann, ist Schauplatz von vier Arbeiten die die Dark Matter-Initiatorin Tanja Hehmann (*1974) als Doppelbilder zu Paaren zusammengefasst hat. Zwei extreme Großformate mit dem Titel Illusion of a Large Blind Spot und Illusion of a Small Blind Spot, auf denen schwarz-grau-weiße, wolkenartige Diffusionen verfließen, schweben Rücken an Rücken von einem Lastenkran im Schacht, der in den HERA-Tunnel führt. Zwei weitere Großgemälde, die auf dem Boden zum skulpturalen Doppelbild gefügt sind, erzeugen mit ihren hellen Strahlenkränzen visuelle Energieausstöße. In der durch Farbschüttungen entstehenden Malerei der Künstlerin treffen Komposition und Zufall aufeinander. Die Verwirbelungen und zentrifugalen Strahlenbildungen lassen an kosmische Ereignisse denken. Aber es sind auch Seelenlandschaften, Reisen in innere Tiefen ebenso wie außerirdische Blicke von oben auf eine ferne Welt, die in den Worten der Künstlerin die Frage aufwerfen: „Was ist es, was die Welt im Innersten zusammenhält? Was ist da, was wir nicht sehen können?“

Der Visualisierung des Ungreifbaren geht Patrick Kramer (*1975) auf andere Weise in seiner Lichtinstallation nach. Seine Auseinandersetzung mit metaphysischen Erfahrungshorizonten und Schöpfungsprozessen entfaltet sich in seiner modularen Konstruktion im Spannungsverhältnis zwischen Low-Tech (Multiplexplatten und Leuchtstoffröhren als Baustoffe) und High-Tech (Bezugnahme auf Beschleuniger-Experimente, die der Lichtgeschwindigkeit nahekommen).

Observationen in der Natur, im Feld der Wissenschaft und in urbanen Räumen stehen wiederum im Fokus von Sybille Neumeyer (*1982). Diese untersucht sie anhand von künstlerischen (Feld-)Forschungsmethoden und setzt sie in Installationen und Videoarbeiten um. Für Dark Matter hat sie die Arbeit Time–Image entwickelt, die Grenzen menschlicher Wahrnehmung und das ephemere Phänomen der Zeit auslotet. Im Kontext des Beschleuniger-Tunnels kontrastiert ihre Videoinstallation mit der Idee der Akzeleration immaterieller Teilchen auf Höchstgeschwindigkeit: Eine meteoritenartige Masse schwebt schwerelos und scheinbar still im dunklen Raum. Die vermeintliche Immobilität des Steins täuscht, den tatsächlich dreht er sich in einer Art rasendem Stillstand der Erde gleich um seine eigene Achse – eine Reproduktion der täglichen Rotation unseres Planeten in Echtzeit, die hier für das Auge kaum merklich vonstattengeht.

Der Komponist, Produzent und Sound-Designer Chris Pfeil (*1980) setzt in seiner Klanginstallation Composition of Dark Matter im HERA-Tunnel die Kraft des ephemeren Mediums der Musik ein, (Erfahrungs-)Räume zu formen und greifbar zu machen: Mittels analoger Modular-Synthesizer erzeugt und über Lautsprecher zu hören, die an verschiedenen Punkten des Tunnels platziert sind, interagieren die Klänge mit der spezifischen Umgebung, die als Resonanzkörper fungiert.

Ins Herz der Finsternis
Konkretere räumliche Interventionen bestimmen die Arbeiten von Jan Köchermann (*1967). Für Dark Matter hat er den Frassek Space Collector nach Entwürfen des in Vergessenheit geratenen Teilchenphysikers Hubertus M. Frassek nachgebaut, der in den 1960er Jahren in der ehemaligen DDR ein automobiles Messgerät mit Trichtervorrichtung und Belichtungsplatte konzipierte, mit dem er die Existenz winziger schwarzer Löcher zu beweisen hoffte: eine Idee, die in damaligen Wissenschaftskreisen auf Ablehnung stieß. Während der Ausstellung wird Köchermanns Space Collector auf dem DESY-Gelände unterwegs sein und die Atmosphäre nach verborgenen schwarzen Kleinstlöchern sondieren, deren Auren Frassek glaubte, mit seiner Erfindung abbilden zu können.

Mit nicht immer sofort ersichtlichen architektonischen Eingriffen und Installationen verändern die Künstler des Kollektivs we are visual – Felix Jung (*1985) und Marc Einsiedel (*1983) – bestehende Innen- und Außenräume. Eisenhaltige Abschirmsteine aus Beton, die störungsfreie Messergebnisse bei Teilchenbeschleuniger-Experimenten wie die des mittlerweile stillgelegten HERA-Tunnels ermöglichen sollen, wurden von den Künstlern am Fundort der Elemente auf einem brachliegenden Areal des DESY-Geländes zu einem massiven, archaisch anmutenden Bauwerk zusammengefügt. Die Installation Dunkle Angelegenheit schottet BesucherInnen nach außen hin ab, die so zu Akteuren innerhalb eines quasi geschlossenen Systems werden.

Ins Herz der Finsternis der Teilchenforschung hat sich der Filmemacher Jan Peters (*1966) anlässlich eines Künstlerstipendiums 2013/14 am CERN begeben und die dortigen Arbeitsvorgänge in einem Zusammenschnitt aus bewegten Digitalaufnahmen, analogen Fotografien und Lochbildkameraaufnahmen (entwickelt mit Instant-Kaffee, Vitamin-C und Waschsoda) dokumentiert. Sein Video-Loop CERN Material Trigger 42 läuft im CMS-Kontrollraum, wo die Datenerfassungen des CERN nonstop live übertragen werden. In Anlehnung an die „Trigger–Selektion“, die zum Filtern der bei der Teilchenbeschleunigung anfallenden immensen Datenmengen angewendet wird, setzte Peters bei der Bearbeitung des gefilmten Rohmaterials als „Trigger“ die Zahl 42 ein – die berühmte Antwort des Supercomputers Deep Thought auf die ultimative Frage in Douglas Adams’ Per Anhalter durch die Galaxis.
Entsprechend kamen von über 2400 gedrehten Einstellungen nur die mit der Endnummer 42 in chronologischer Reihung zum Einsatz. Der Film zeigt ein hochkomplexes, materialreiches technisches Environment aus verzweigten Rohrsystemen, Messapparaturen und wirren bunten Kabelverflechtungen, in dem die Suche nach der ungreifbaren Dunklen Materie Bodenhaftung erhält. Zugleich lässt der Zufall als bildstiftendes Prinzip Rückschlüsse auf Aspekte der Irrationalität ziehen, die der scheinbar stringenten Rationalität wissenschaftlicher Methodik innewohnen: Magisches Denken ist auch der Forschung nicht fremd.

Unberechenbarkeit als bildgebende Kraft
Wenn sich Künstlerinnen und Künstler auf das Gelände der Wissenschaft begeben, und das tun sie in diesem Fall nicht nur buchstäblich, sondern formalästhetisch, methodisch und inhaltlich, dann sind die Ergebnisse unabsehbar, zumindest nicht vorherberechenbar. Dies eint die Kunstschaffenden mit den wissenschaftlich Forschenden im undurchsichtigen Terrain der Dunklen Materie. Auf der anderen Seite unterscheiden sich KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen darin, dass die einen antreten, das bisher Unerhörte, Ungesehene, das Wunder des so noch nicht dagewesenen zu erzeugen, während die anderen sich anschicken, dieses Wunder zu beweisen. Die Aufschließung und Freisetzung der metaphysischen Dimension ist Ersteren weniger fern als Letzteren, die sich – anders als die frühen Wissenschaftler der Antike – eher von diesseitiger Warte aus den Rätseln des Universums widmen.
Dennoch ist die Nähe zwischen Kunst und Wissenschaft auch historisch gesehen weitaus größer als deren Distanz zueinander. Ihre gemeinsamen Wurzeln liegen in der Antike – der Geburtsstätte unserer abendländischen Kultur. Die Leitsätze der frühen Mathematiker und Physiker blieben nach antikem Vorbild noch über Jahrhunderte hinweg engmaschig verwoben mit den Vorstellungswelten der Mystik und der Magie. Künstler waren ihrerseits als Forscher aktiv. So begab sich der visionäre Maler, Bildhauer, Architekt, Mechaniker, Ingenieur, Musiker und Naturphilosoph Leonardo da Vinci (1452–1519) neben seiner künstlerischen Arbeit auf die Spur der Vögel, studierte die Anatomie des Menschen und entwarf Flug- und Kriegsmaschinen, Waffen, Geräte und Schiffe. Kunst und Wissenschaft waren für das Renaissance-Genie untrennbar verbunden.
Auch heute noch greifen Künstlerinnen und Künstler auf wissenschaftliche Methoden zurück, um Erkenntnisse über unser Existieren in der Welt, im Kosmos, in den inneren und äußeren Dimensionen unseres Menschseins zu erlangen. Diese Methoden werden durchaus unterwandert und quergebürstet, hintertrieben und aus den Angeln gehoben, um zu einer tiefer gelegenen „Wahrheit“, einer anderen Realität oder Sicht auf das Sein zu gelangen. Doch auch WissenschaftlerInnen sind nicht lediglich Beweisführer unverrückbarer Annahmen und festgeschriebener Naturgesetze. Denn, wie der Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend feststellt, ist die Erforschung der Natur, die für ihn den gesamten Kosmos umschließt, ein kreativer Akt mit künstlerischem Ergebnis. Feyerabend geht davon aus, „dass ‚die Natur’ der modernen Wissenschaften vielleicht wirklich ein Kunstwerk ist, gebaut aus einem Material, was wir nicht kennen, das aber als physikalische Materie erscheint, wenn wir materialistisch damit umgehen.“ Demzufolge wäre „das, was wir herausfinden, wenn wir die Natur untersuchen […], nicht die Natur selbst […], sondern die Weise, in der die Natur auf unsere Bemühungen reagiert.“(3)
Was aber, wenn der Forschungsgegenstand eine unfassbare Materie ist, die sich als resistent gegen bisherige Materialisierungs- und Messmethoden erweist, und deren Ungreifbarkeit Grenzüberschreitungen jenseits der schon beschrittenen Bahnen und Geschwindigkeiten verlangt? Müssen dann WissenschaftlerInnen nicht zu KünstlerInnen werden, um diesem profunden Geheimnis auf den Grund zu kommen? Das Denken des Nichtvorstellbaren, das intuitive Forschen, das Einbeziehen von Zufall und Scheitern als erkenntnisleitende Prinzipien und der Versuch, das Nichtsichtbare sichtbar zu machen, sind genuin künstlerische Vorgehensweisen, die die wissenschaftliche Bemühung, Licht ins immaterielle Dickicht Dunkler Materie zu bringen, längst antreiben.
 
Dr. Belinda Grace Gardner, 2017
 
(1) Paul Feyerabend: Die Natur als ein Kunstwerk, in: Wolfgang Welsch (Hrsg.): Die Aktualität des Ästhetischen (Bd. zum gleichn. Kongress, 2.–5. Sept. 1992), München 1993, S. 278.
(2) Zit. n. Friedrich Kittler: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig 1993, S. 147.
(3) Feyerabend, in: Welsch 1993, S. 286.